Wirtschaftliche Auswirkungen der Covid-19-Gesundheitskrise: ein Szenario

Auf der Grundlage eines Szenarios, bei der die gegenwärtige Eindämmungsmaßnahmen sieben Wochen lang in Kraft bleiben, gehen die Belgische Nationalbank und das Föderale Planungsbüro davon aus, dass das reale BIP der belgischen Wirtschaft in 2020 um acht Prozent schrumpfen könnte. Für 2021 wird eine Erholung (+8,6%) prognostiziert, vorausgesetzt, dass die akute Phase der Krise (in der ersten Hälfte des Jahres 2020) das Produktionspotenzial der Wirtschaft nicht nachhaltig schädigt.  Die BNB und das Föderale Planungsbüro erwarten, dass die Maßnahmen zum Schutz des verfügbaren Einkommens der Haushalte die Grundlage für eine rasche Erholung des Verbrauchs ab dem dritten Quartal dieses Jahres legen werden. Die Analyse zeigt auch, dass die Liquidität der Unternehmen unter erheblichen Druck steht und somit den Umsatzverlust widerspiegelt. Die Stärke des für die zweite Jahreshälfte und für 2021 prognostizierten Aufschwungs beruht auf der technischen Annahme, dass der Liquiditätsstress nicht zu Solvenzproblemen führen würde, die zu zahlreichen Unternehmenskonkursen und damit zu einem anhaltenden Anstieg der Arbeitslosigkeit führen würde. Die erwarteten Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen stehen in einem angemessenen Verhältnis zu dem Schock: am Ende dieses Jahres könnte das öffentliche Defizit mindestens 7,5 % des BIP und die öffentliche Verschuldung etwa 115 % erreichen. 

Der Kampf gegen die Covid-19-Pandemie hat beispiellose Gesundheitsmaßnahmen erfordert, die ganze Bereiche unserer Wirtschaft lahmgelegt haben und die Bevölkerung in Quarantäne gezwungen haben. Hierdurch ist eine Störung des normalen Funktionierens praktisch aller Tätigkeitsbereiche entstanden. Innerhalb weniger Wochen sind 1,2 Millionen Arbeitnehmer vorübergehend arbeitslos geworden, und mehr als 300 000 Selbständige mussten ihre Tätigkeit einstellen.  Diese akute und beispiellose Krise konfrontiert sowohl Unternehmen als auch Haushalte mit unmittelbaren Liquiditätsproblemen.

Zwar wurden rasch Maßnahmen ergriffen, um die Einkommensverluste vieler Wirtschaftsakteure abzufedern (z.B. leichterer Zugang zu vorübergehender Arbeitslosigkeit, Überbrückungsrecht für Selbständige, Moratorium für Hypothekarkredite für von der Krise betroffene Haushalte, staatlich garantierte Bankkredite und regionale Unterstützung für die betroffenen Unternehmen), doch reichen diese Maßnahmen möglicherweise nicht aus, um das Produktionspotenzial der Wirtschaft in der akuten Phase der Krise zu sichern.  Beispielsweise könnte der Konkurs von Unternehmen, die vor den Eindämmungsmaßnahmen profitabel waren, oder die Revision von Investitionsplänen die Produktionskapazität und die Schaffung von Arbeitsplätzen nachhaltig schwächen und damit die Stärke des Aufschwungs gefährden. Um ein Gleichgewicht zwischen ausreichend starken Unterstützungsmaßnahmen und einer gerechten Verteilung ihrer Kosten zwischen Unternehmen, Haushalten und Behörden (einschließlich der zeitlichen Verteilung dieser Kosten) zu finden, ist eine vorherige, möglichst realistische Einschätzung der wahrscheinlichen kurzfristigen Auswirkungen des Schocks auf die Wirtschaft und der Vorteile der Erhaltung des Produktionsapparats erforderlich.

Aus diesem Grund haben sich die BNB und das BFP zusammengetan, um eine erste Einschätzung dieser Auswirkungen und der möglichen Form des Ausweges aus der Krise vorzunehmen. Diese Folgenabschätzung fällt aus den üblichen makroökonomischen Aussichten heraus.  Letztere ergeben sich aus einer Extrapolation der in der Vergangenheit beobachteten durchschnittlichen Trends und eignen sich daher nicht für einen Kontext, in dem es weiterhin große Unsicherheiten bestehen, sowohl hinsichtlich der Eindämmungsdauer als auch hinsichtlich des Tempos und der Art und Wiese, in der die Eindämmungsmaßnahmen aufgehoben werden.

Die Analyse basiert auf einem Szenario mit vier Hauptannahmen: (1) eine Quantifizierung der anfänglichen, mittels Umfragen vor Ort gemessene Auswirkungen des Schocks[1], (2) die wahrscheinliche Dauer der ergriffenen Gesundheitsmaßnahmen, (3) das Tempo der Aufhebung dieser Maßnahmen und der Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit, und (4) die Existenz (und das Ausmaß) einer dauerhaften Abweichung von dem von der Krise geplanten Pfad der Wirtschaft. Diese Annahmen werden in ein Modell der belgischen Wirtschaft integriert, das es dann ermöglicht, die Auswirkungen auf das Einkommen und den Verbrauch der Haushalte, den Bruttobetriebsüberschuss der Unternehmen und die öffentlichen Finanzen zu quantifizieren.

Dieses Szenario ist eindeutig eine Momentaufnahme und unweigerlich verbesserungsfähig, da es auf den zum Zeitpunkt seiner Erstellung verfügbaren Informationen basiert. Ihre Relevanz beschränkt sich daher auf die ihr zugrunde liegenden Annahmen. Es besteht eine beträchtliche Unsicherheit hinsichtlich der Quantifizierung, und im Gegensatz zu einer Prognose ist es unmöglich, die Fehlermargen abzuschätzen. Alle neuen Informationen über die Dauer der derzeitigen Eindämmungsmaßnahmen, deren tatsächlichen Auswirkungen auf die Wirtschaftstätigkeit, das Tempo ihrer Aufhebung, den internationalen Kontext und die Maßnahmen zur Erhaltung des Produktionspotenzials könnten einen großen Einfluss auf diese Berechnung haben.

Das Szenario

Das Szenario basiert auf den folgenden Annahmen:

  • Anwendung der gegenwärtigen Eindämmungsmaßnahmen für eine Gesamtdauer von sieben Wochen, wobei von einem Verlust von einem Drittel der Wertschöpfung des Privatsektors ausgegangen wird.
  • Eine Phase allmählicher Erholung von neun Monaten, nach der man davon ausgeht, dass die Wirtschaftstätigkeit voraussichtlich wieder auf einen ähnlichen Wachstumspfad wie vor der Krise zurückgekehrt ist, allerdings auf einem um 2 Prozentpunkte niedrigeren Niveau. Dabei sollten sowohl die schrittweise Aufhebung der Eindämmungsmaßnahmen selbst, die allmähliche Erholung der Wertschöpfungsketten und Produktionslinien, das gestörte und unsichere internationale Umfeld sowie etwaige Konkurse oder Aufgaben von Investitionsplänen, die ohne die Krise nicht stattgefunden hätten, berücksichtigt werden.  Der Aufschwung ist jedoch im dritten Quartal bedeutender, um dem wahrscheinlichen Nachholbedarf beim Kauf bestimmter langlebiger Gebrauchsgüter Rechnung zu tragen.
  • Es wird davon ausgegangen, dass die Begünstigten der vorübergehenden Arbeitslosigkeit Vollzeit arbeitslos sind. Diese Annahme ist wahrscheinlich stark; sie kann zu einer Überschätzung des Verlustes an verfügbarem Haushaltseinkommen und zu einer Unterschätzung des Rückgangs des Bruttobetriebsüberschusses der Unternehmen führen.
  • Die Inflation verharrt auf dem Ausgangsniveau des anfänglichen Nicht-Krisenszenarios. Tatsächlich unterliegen die Preise gegensätzlichen Einflüssen, die derzeit nur in begrenztem Umfang sichtbar sind (Rückgang der Ölpreise, Preisanstieg bei bestimmten Produkten im Zusammenhang mit Lagerungs-, Verteilungs- oder Versorgungsproblemen).

Wirtschaftspolitisch berücksichtigt das Szenario nur Entscheidungen über vorübergehende Arbeitslosigkeit und Überbrückungsrechte.  Ohne verlässliche Informationen in diesem Stadium bleibt der öffentliche Verbrauch (Personalkosten im öffentlichen Dienst und Kauf von Waren und Dienstleistungen) gegenüber dem ursprünglichen Kurs unverändert.  Die öffentlichen Investitionen werden angesichts des Einbruchs der Tätigkeit im Baugewerbe zurückgefahren. Andere Maßnahmen, einschließlich z.B. Regionalbeihilfen für Unternehmen, werden in diesem Stadium nicht berücksichtigt, da zum Zeitpunkt der Quantifizierung des Szenarios keine ausreichend zuverlässigen Daten vorlagen. 

Ergebnisse

Die aus dem Modell resultierende Folgenabschätzung lässt sich wie folgt zusammenfassen:

  • Über das gesamte Jahr 2020 würde das BIP um 8 % schrumpfen, mit einem vierteljährlichen Rückgang von rund 4 % im ersten Quartal und 15 % im zweiten Quartal, gefolgt von einer kräftigen Erholung in der zweiten Jahreshälfte, die jedoch nicht ausreichen würde, um den anfänglichen Verlust auszugleichen.  Die Fortsetzung dieser Erholung würde das Wachstum im Jahr 2021 ankurbeln (+ 8,6 %).

 

[1] Pressemitteilung ERMG: https://www.nbb.be/de/artikel/die-belgischen-unternehmen-schatzen-dass-d...

  • Im Vergleich zu einem Szenario ohne Krise würde sich der kumulierte BIP-Verlust Ende Juni 2020 auf fast 30 Mrd. Euro, Ende Dezember auf 45 Mrd. Euro und Ende 2021 auf fast 60 Mrd. Euro belaufen.
  • Die Auswirkungen des Schocks auf den Saldo der öffentlichen Finanzen würden sich auf etwa 5,3 % des BIP belaufen, wodurch das Haushaltsdefizit auf etwa 7,5 % des BIP sinken würde, was hauptsächlich auf die "automatischen Stabilisatoren" im Zusammenhang mit der Arbeitslosenunterstützung, den Überbrückungsrechten und geringere Steuereinnahmen zurückzuführen ist.     Der Schuldenstand, der zum Jahresende auf 115% des BIP geschätzt wird, unterliegt dem doppelten Effekt eines erhöhten Finanzierungsbedarfs und eines vorübergehenden Rückgangs des nominalen BIP (Nenner der Schuldenquote). Es sei daran erinnert, dass diese Berechnungen nicht alle bereits getroffenen Maßnahmen oder den Anstieg der Gesundheitskosten im Zusammenhang mit der Covid‑19-Krise berücksichtigen.
  • Der Schock auf die Wertschöpfung würde zu einem Verlust des real verfügbaren Haushaltseinkommens von rund 2,8% führen, was gegenüber 2019 einem Rückgang um 1,5 % entspricht. Dieser relative Rückgang ist deutlich geringer als die Schrumpfungsrate des BIP.  Der Bruttobetriebsüberschuss der Unternehmen würde gegenüber 2019 um 40 % zurückgehen.

 

 

  • Die Eindämmungsmaßnahmen schränken naturgemäß die Verbrauchsmöglichkeiten ein. Der Verbrauch würde im Vergleich zu 2019 real um 5,7% sinken, und dieser Rückgang würde hauptsächlich in der ersten Jahreshälfte eintreten.  Angesichts des relativ bescheideneren Rückgangs des real verfügbaren Einkommens deutet das Szenario (von einem aggregierten Standpunkt betrachtet) auf eine Anhäufung von Zwangsersparnissen hin, die nach der Wiedereröffnung von Einzelhandelsgeschäften und anderen Tätigkeiten, die derzeit stillgelegt werden, zum Teil freigegeben werden könnte. Auf dieser Grundlage ist zu erwarten, dass der Verbrauch ab dem dritten Quartal 2020 ziemlich deutlich anziehen wird. 

Insgesamt geht das angewandte Szenario daher davon aus, dass die negativen Auswirkungen der Krise vorübergehender Natur sind und sich hauptsächlich auf die ersten beiden Quartale des Jahres 2020 konzentrieren werden. Die Haushalte würden einen Rückgang ihres verfügbaren Einkommens und des Verbrauchs erleben, während die Unternehmen einen starken, aber vorübergehenden Rückgang ihres Betriebsüberschusses verzeichnen würden.

Während die Sozialversicherungssysteme und vorübergehende Moratorien für bestimmte finanzielle Verbindlichkeiten die Haushalte weitgehend vor den Unsicherheiten des Szenarios schützen, beziehen sich die Maßnahmen zugunsten der Unternehmen hauptsächlich auf Liquiditätshilfen (gesicherte Kreditlinien, Steuerstundungen usw.).  Die hier getroffene technische Annahme ist, dass diese Maßnahmen ausreichen, um das Konkursrisiko der meisten Unternehmen, die vor der Krise überlebensfähig waren, einzudämmen. Die oben diskutierten Aggregate verdecken jedoch eine Vielzahl von Situationen nach Sektoren oder Tätigkeitsbereichen. Zum Beispiel haben nicht alle Sektoren die gleiche Fähigkeit, mit großen Liquiditätsreserven zu operieren, und sind daher nicht alle gleichermaßen dem Schock ausgesetzt. Auch die Intensität des Schocks selbst ist nicht für alle Sektoren gleich.  Für Unternehmen mit geringer Liquidität, die über einen begrenzten Kapitalpuffer verfügen, oder die von der Krise stärker betroffen sind, besteht daher ein reales Konkursrisiko. Die Eindämmung dieses Risikos wird wahrscheinlich den raschen Einsatz zusätzlicher, auf diese Unternehmen ausgerichteter Maßnahmen erfordern, um ihre Solvenz zu erhalten. Diese Maßnahmen müssen a priori vorübergehend sein und auf die tatsächlich erlittenen Schäden abgestimmt werden. 

Risiken

Die quantifizierten Größenordnungen des hier betrachteten Szenarios stehen im Einklang mit den jüngsten makroökonomischen Prognosen verschiedener Quellen, einschließlich der internationalen Finanzinstitutionen. Diese Übung ist jedoch mit beträchtlicher Unsicherheit verbunden. Es gibt zahlreiche Risiken, die zu noch ungünstigeren Situationen führen könnten.  Dazu gehören:

  • Eine weniger günstige epidemiologische Dynamik als erwartet, die sowohl eine längerfristige als auch eine strengere Eindämmung erfordert.
  • Zunehmende Produktionsverluste während der Eindämmungsphase aufgrund der größeren zeitlichen Verlagerung der Wertschöpfungsketten.
  • Eine wirtschaftliche Erholung, belastet durch zahlreiche Konkurse und erhebliche Arbeitsplatzverluste in bestimmten Sektoren, die strukturell anfälliger für mangelnde Liquidität und stärker von den Auswirkungen der Gesundheitsmaßnahmen betroffen sind.
  • Das Risiko eines vorübergehenden Inflationsschubs begleitet von einer Erholung des Verbrauchs, die das Tempo der Wiederaufnahme der Produktions- und Vertriebskapazitäten übersteigt. Umgekehrt könnte eine langfristige Nachfrageschwäche (z.B. bedingt durch die Anhäufung von höheren Vorsorge-Ersparnissen) zu einem Abwärtsdruck auf die Preise und einem  erhöhten Deflationsrisiko führen.   
  • Eine anhaltende Verschlechterung des internationalen Umfelds aufgrund der Gefahr weiterer negativer Spillover-Effekte zwischen den Volkswirtschaften, z.B. im Falle eines Wiederaufflammens der Epidemie.

Umgekehrt würde eine schnellere Rückkehr zur Normalität zu einer weniger schweren Krise führen.

Lehren für die Wirtschaftspolitik

Die Zahlen in diesem Szenario zeigen deutlich, dass die Krise tiefgreifende Auswirkungen auf die Wirtschaft und die öffentlichen Finanzen hat. Nach dem sehr herausfordernden Jahr 2020 könnte unser Land eine relativ rasche Erholung erleben, vorausgesetzt, dass die notwendige Unterstützung und Hilfe bereitgestellt wird. Die negativen Auswirkungen sind sicherlich schwerwiegend, aber sie sind sowohl vorübergehend als auch außergewöhnlich.

Die verschiedenen Unterstützungsinitiativen die von den föderalen und regionalen Behörden unseres Landes sowie vom Banken- und Versicherungssektor ergriffen wurden, haben dazu geführt, dass das Hauptanliegen, nämlich die Liquiditätsprobleme der Unternehmen und die Unterstützung des verfügbaren Haushaltseinkommens, nun weitgehend unter Kontrolle ist.  Dennoch sollte dies nicht zu Selbstgefälligkeit führen.  Auch für Unternehmen und Selbständige werden in den kommenden Tagen und Wochen Solvenzprobleme auftreten. Die Bewältigung dieser Herausforderungen hat nun oberste Priorität, um sowohl das Wirtschaftsgefüge unseres Landes als auch die Beschäftigung zu schützen.

Die wirtschaftliche Infrastruktur wurde bisher nicht beeinträchtigt. Sobald die Pandemie eingedämmt ist und die Gesundheitsbehörden grünes Licht gegeben haben, kann die normale Wirtschaftstätigkeit allmählich wieder aufgenommen werden. Das kollektive Erbe der belgischen Wirtschaft ist in der Tat intakt geblieben. In dieser Phase nach der Pandemie werden jedoch weiterhin Unterstützungsmaßnahmen erforderlich sein.

Jetzt kommt es darauf an, gesunden Unternehmen oder Sektoren, die vor Solvenzproblemen stehen, bestmöglich zu helfen, diese Krisenzeit zu überstehen.  Diese Unterstützung ist unerlässlich, um zu verhindern, dass die Krise zu struktureller Arbeitslosigkeit führt, und um die öffentlichen Finanzen nach dem durch diese Krise ausgelösten vorübergehenden Schock gesund zu halten. 

In den kommenden Tagen, Wochen und Monaten werden die Nationalbank und das Föderale Planungsbüro die Entwicklungen genau verfolgen, und die Forschungsabteilungen der beiden Institutionen werden zu diesem Zweck sehr eng zusammenarbeiten.